Mittwoch, 23. Februar 2011

Frau Dr. Mabuse

Ich warte schon seit Wochen, dass es in meinem Stammcafé wieder den grandiosen anbetungswürdigen  Mohnkuchen gibt. Aber die nette Besitzerin bedauert, dass sie mir heute wieder keinen servieren kann. Kein Wunder, denke ich, nach all den Katastrophen ist es nur eine Frage der Zeit, bis uns eine Mohnkrise heimsucht. Ich esse stattdessen ein Stück Chocolat Royal und höre dabei "Love Is a Losing Game" von Amy Winehouse.
Ich schaue mich um. Das übliche Publikum. Unausgefüllte fünfzigjährige Frauen mit viel Zeit und schlecht gekleidete unrasierte Freiberufler, die das kostenlose und reichhaltige Zeitungsangebot weidlich ausnutzen. Am Tisch neben der Tür sitzt wieder wie stets eine Frau mittleren Alters mit hexenhaft abstehenden, grauen Haaren, die immer wie besessen und manisch in akkurater Schrift wieselflink irgendetwas in einen Schreibblock kritzelt, um alle fünf Minuten den Zuckerstreuer gerade zu rücken. Nach einer Stunde ist der Schreibblock voll. Ich nenne sie in Gedanken "Frau Dr. Mabuse". Sie erinnert mich an den Film Das Testament des Dr. Mabuse von 1962.
Man vermutet, dass sie aus der nahe gelegenen Psychiatrie der Schlossparkklinik kommt und Freigängerin ist. Ich habe etwas Angst vor ihr, denn wenn man Blickkontakt mit ihr bekommt, werden ihre Augen klein wie Stecknadelköpfe und ihr Blick ist dann so stechend, dass man einen echten Schmerz zu verspüren glaubt.
Schnell schleiche ich an ihr vorbei ins Freie, sorgsam darauf bedacht, ihr nicht in die Augen zu blicken.

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